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Bevor Du kamst, war auch ich einsam. Auf eine andere Art als Du, denn ich kannte eine Menge Leute, gehörte dazu. Wir teilten eine Art Lebensgefühl, aber verstanden und in meiner ganzen Persönlichkeit wahrgenommen fühlte ich mich von keinem von ihnen.
Ich las damals am liebsten Christine Nöstlinger. Alles, was ich von ihr in die Finger bekam. Denn in Nöstlingers Büchern gab es eine Menge Kinder und Jugendliche, denen es irgendwie so ging wie mir. Von ihnen fühlte ich mich verstanden, obwohl sie nicht real waren, kommunizierten sie auf eine mysteriöse Weise mit mir. Wir hatten dieselbe Weltsicht, teilten dieselben Gedanken, hatten dieselben Ängste, Sorgen und Probleme. Meine besten Freundinnen wurden Gretchen Sackmeier und Susi, die Tagebuchschreiberin (dank Susi habe ich damals begonnen, selbst ein Tagebuch zu führen und tue es noch heute).
Gretchen und Susi, Anatol und Ilse, Konrad, das Kind aus der Konservenbüchse und die feuerrote Friederike, Olfi Obermeier und Hugo, das Kind in den besten Jahren, und all die anderen von Nöstlingers wunderbaren Figuren: Sie leben in keiner heilen Welt, sie sind Scheidungskinder, Schlüsselkinder, Ausreißer, Außenseiter, haben Probleme in der Schule, mit ihren Eltern, und viele sind Einzelkinder, so wie ich. Doch ich konnte mich nicht nur mit ihnen identifizieren, sondern auch viel von ihnen lernen. Denn sie sind auch kleine Heldinnen und Helden des Alltags, lassen sich nicht unterkriegen, haben eine große Klappe und auf alles eine passende Antwort – und zwar im schönsten Wienerisch. Sie sind aufrichtig und mutig, besitzen Humor und Selbstironie und sind dazu noch meist vernünftiger als die Erwachsenen um sie herum. Immer ziehen sie sich irgendwie am eigenen Schopf aus dem Schlamassel. Sie haben alle etwas Anarchistisches an sich – sind direkte Nachkommen von Pippi Langstrumpf und Ronja Räubertochter. Deswegen ist es für mich nur logisch, dass Christine Nöstlinger gleich den Astrid-Lindgren-Memorial-Award bekommen hat, als dieser nach dem Tod der großen schwedischen Erzählerin zum ersten Mal vergeben wurde.
Im vergangenen Jahr hat Christine Nöstlinger ihre Erinnerungen veröffentlicht: Glück ist was für Augenblicke (St. Pölten: Residenz Verlag, 2013), und die habe ich mit einem ebensolchen Genuss gelesen wie ihre Kinder- und Jugendbücher. Nöstlinger musste sich auch von klein auf behaupten. Sie ist in ziemlich beengten Verhältnissen aufgewachsen, hat als Kind den Krieg erlebt, und die Erwachsenen um sie herum scheinen allesamt recht narzisstische Persönlichkeiten gewesen zu sein und mehr auf ihre eigenen Bedürfnisse geachtet zu haben als auf die ihrer Kinder. Eine typische Arbeiterfamilie, der Vater war selbst der KPÖ zu links, weswegen ihn die Partei Anfang der Dreißigerjahre ausgeschlossen hatte. Diese Sozialisation prägte Nöstlingers Bücher und ihre Figuren. In ihren Erinnerungen schreibt sie:
Sichtlich fanden viele Lehrer, dass in meine Geschichte von der „Feuerroten Friederike“ zu viel linke Ideologie reingestrickt ist. Mein Hirn konnte eben nur links stricken, rechte Maschen schaffte es nicht.
(Christine Nöstlinger: Glück ist was für Augenblicke. Erinnerungen. St. Pölten: Residenz Verlag, 2013, S. 166.)
Auch ich habe aus meiner Familie eine gute Portion politisches Bewusstsein mitbekommen, doch kam mir bei der Lektüre von Nöstlingers Memoiren plötzlich der Gedanke, dass ihre Bücher vielleicht noch mehr für meine Haltung verantwortlich sein könnten als meine Eltern. Mir ist wieder eingefallen, dass ich solche Namen wie Jimi Hendrix und Siegmund Freud zum ersten Mal bei Nöstlinger gelesen habe. Dass Konfrontation mit den Widrigkeiten des Lebens in ihren Büchern immer zu einem guten Ausgang, zu einer Auflösung von Konflikten führen. Ich habe mich oft gefragt, warum Antirassismus, Antifaschismus und Feminismus für mich eigentlich immer selbstverständlich waren. Und wie meine Werte – allen voran Loyalität und Aufrichtigkeit – zustande gekommen sind. Vielleicht, weil mir Nöstlingers Figuren all das vorgelebt haben. Sie haben meine Persönlichkeit zu einem guten Maß geformt, und sie haben mir in meiner kindlichen Einsamkeit Gesellschaft geleistet, mich getröstet und mir gezeigt, wie man seine Meinung kundtut, Position bezieht, Konflikte bewältigt und sich nicht unterkriegen lässt.
Das ist es, wozu die Literatur fähig ist: Sie kann einen retten. Und vielleicht ist sie deswegen bis heute ein so wichtiger Bestandteil meines Lebens geblieben, weil ich bereits als Kind das Glück gehabt habe, dies zu erfahren.