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Jetzt ist nicht nur die Bayernwahl vorbei sondern auch die Bundestagswahl, und das Ergebnis bringt mich dazu, an Deine Analyse anzuknüpfen. Wobei ich vorausschicken muss, dass ich mich bezüglich Bayern ohnehin schon fast schon damit abgefunden habe, dass ich einen Regierungswechsel in unserem Freistaat wahrscheinlich nicht mehr erleben werde.

Ich glaube immer mehr, dass der anhaltende Erfolg der CSU auf ein ähnliches Phänomen zurückzuführen ist, wie die Tatsache, dass so viele Italiener immer wieder Berlusconi gewählt haben: Je verschlagener die Politiker agieren (z.B. was die Anstellung und sehr großzügige Bezahlung von Familienmitgliedern betrifft), je absurder und größenwahnsinniger ihre Forderungen sind (z.B. Pkw-Maut nur für Ausländer unter Missachtung des geltenden EU-Rechts), desto mehr Hochachtung wird ihnen entgegengebracht, frei nach dem Motto: „Hund sans scho.“ Die Schlitzohrigkeit ist in Bayern schließlich ein sehr positiv besetztes Persönlichkeitsmerkmal. Sie hat etwas Rebellisches, etwas Anarchistisches, und viele sehen dies paradoxerweise vor allem in der CSU repräsentiert. Das bestätigte auch Carl Amery, indem er sagte, die Bayern seien lauter Anarchisten, die CSU wählen.

Der italienische Journalist Beppo Severgnini stellt in seinem Buch Überleben mit Berlusconi (München: Blessing, 2011) die These auf, der Hauptgrund für Berlusconis Erfolg sei, dass viele Italiener ihn aufgrund seiner Schwächen, seiner Leidenschaft für junge Frauen, seiner Entgleisungen und seiner offensichtlichen Aversion gegen technische Neuerungen (er sagt z.B. immer noch „Gogol“ statt „Google“) als einen von ihnen erkennen, der nicht vorgibt, etwas Besseres zu sein.

Es wäre interessant, abzugleichen, wie viele Faktoren, die Berlusconi immer wieder das Vertrauen so vieler Italiener eingebracht haben, auch für Herrn Seehofer und seine Blosn geltend gemacht werden könnten. Zudem ist Bayern ja bekanntermaßen der nördlichste Teil Italiens. Also möglicherweise alles nur eine Mentalitätsfrage.

Auf die gesamte Bundesrepublik lässt sich diese These wahrscheinlich nicht anwenden. Dass ein weiteres Mal die CDU die Mehrheit bekommen hat und damit der Status Quo bestätigt wurde, erinnert mich an ein urgermanisches Phänomen: Eine Art Nibelungentreue – bevor wir Neues wagen, machen lieber so weiter wie bisher, denn es könnte ja noch schlimmer kommen, und reiten so erst recht mit wehenden Fahnen in den Untergang. Auch ein Paradox. Doch die Süddeutsche Zeitung gibt dem unterschwellig auch noch recht, indem sie drei Tage nach der Bundestagswahl titelte: „Deutsche so reich wie noch nie.“

Wenn man das Buch von Julia Friedrich, Eva Müller und Boris Baumholt, Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht, liest, wird einem schnell klar, dass das jedoch keineswegs für alle Deutschen gilt. Die drei jungen Journalisten haben etwa zwei Jahre lang Menschen begleitet, die langzeitarbeitslos sind, haben Ein-Euro-Jobber, Leute im Billiglohnsektor und Leiharbeiter interviewt, waren in Förderschulen unterwegs und haben den Alltag auf den Arbeitsagenturen miterlebt und so die soziale Ungerechtigkeit entlarvt, die ausgerechnet die von der SPD verabschiedete Agenda 2010 mit sich gebracht hat.

So habe ich zum Beispiel erfahren, dass Angestellte von Caterern, die alten Menschen das Essen vorbeibringen, nicht nach Stunden bezahlt werden, sondern pro ausgeliefertes Essen und damit auf einen Stundenlohn von nicht einmal 3 Euro kommen, selbst, wenn sie sich bei keinem Kunden länger als 5 Minuten aufhalten. Was mich aber am allermeisten schockiert hat – obwohl ich es sehr gut nachvollziehen kann – ist, und damit wären wir wieder bei der Wahl, dass sich viele Langzeitarbeitslose nicht mehr als Teil der Gesellschaft betrachten, deren politisches System sie mitbestimmen können:

‚Die sind doch alle gleich bescheuert da‘, schimpft René. ‚Die ganze Regierung, die kann ich ja wirklich schon über einen Kamm scheren. Da passiert bei jedem, egal wer Kanzler oder Kanzlerin ist, da passiert doch immer wieder das Gleiche.‘ Es gibt wohl wenige Themen, bei denen er sich mit seiner Frau so einig ist. Jessica nickt eifrig. ‚ {…} Es wird versprochen, versprochen, versprochen, und es passiert gar nichts, es ist überhaupt nichts. {…} Ich war noch nie wählen. Ich weiß gar nicht, wen ich wählen soll. Ne, ich war noch nie wählen.‘

(Julia Friedrich, Eva Müller, Boris Baumholt. Deutschland dritter Klasse. Leben in der Unterschicht. München: Heyne, 2010, S. 152f.)

In diesem Jahr lag die Wahlbeteiligung bei 73%. Und die Aussage von René und Jessica Weber, beide Anfang zwanzig, in diesem Buch verleitet zu der These, dass ein Großteil der Nichtwähler diejenigen sind, die am äußersten Rand der Gesellschaft leben müssen. Ihre Forderungen hätten mit dem Wahlprogramm der CDU sicher wenig gemein. Würden sie nach Inhalten wählen, hätten sie mit der Linken die meisten Überschneidungen (Hartz-Gesetze abschaffen). Da sie aber gar nicht wählen, sichern sie sozusagen trotzdem den Status Quo und halten die Linke auf 8%. Ein positiver Nebeneffekt für die CDU also (und in dem Fall auch für die SPD).

Übrigens habe ich auch von vielen Leuten, die einen Wahl-O-Mat befragt haben, gehört, dass dieser ihnen angezeigt habe, sie seien Wähler der Linken. Die meisten reagierten darauf verblüfft bis schockiert und sagten sofort, die Linke würden sie aber keinesfalls wählen. Als ich sie fragte, warum, bekam ich nie eine sachliche Antwort. Häufig hörte ich: „Das kann man doch nicht machen.“ Ich bin fassungslos darüber, dass die Leute ihre Vorurteile der Linken gegenüber – die von den Medien gehegt und gepflegt werden und im selben Vokabular daherkommen wie das Staatssozialismus-Bashing während des Kalten Krieges – nicht überwinden können, selbst, wenn sie schwarz auf weiß vor Augen geführt bekommen, dass dies die Partei ist, mit der sie in den meisten Punkten übereinstimmen.

Doch bestätigt auch dies die Vermutung, dass Wählen etwas Emotionales ist. Und damit wären wir wieder bei Berlusconi, Seehofer und den bayerischen Anarchisten.

 

Kat